Jägerin und Sammlerin – Lana Lux

Die Leseerfahrung von diesem Buch war eine ganz besondere. Die 304 Seiten habe ich in knapp drei Tagen verschlungen, aber wenn ich während diesen Tagen mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich es auch an einem einzigen Tag auslesen können. Sobald man sich nach den ersten 10-15 Seiten an den Schreibstil und die Dialoge gewöhnt hat, wollte man das Buch gar nicht mehr weglegen. Ausgewählt habe ich es, da ich weiterhin mehr von ukrainischen Schriftsteller_innen lesen möchte, nachdem ich einige Wochen zuvor Irina Kilimnik’s “Sommer in Odessa” ausgelesen habe.

In “Jägerin und Sammlerin” werden so schwierige, dunkle und emotionale Themen angesprochen, die in einem absoluten Gegensatz zu dem Buchcover mit einem niedlichen Eichhörnchen stehen (es gibt aber auch eine Bedeutung dahinter, was ich bei einem Buchdesign besonders schätze!). Die Triggerwarnungen sind hier sehr ausschlaggebend, ob man sich dieses Buches annehmen wollen würde: In erster Linie geht es um Essstörungen (Bulimie und Anorexie werden direkt auf den ersten paar Seiten angesprochen), es werden aber auch Suizid, psychische Krankheiten (unter anderem Depression), sexuelle Belästigung (versuchte Vergewaltigung) und problematische Familienbeziehungen in dem Roman bearbeitet.

Eines Abends […] fielen ihr ihre alten Tagebücher und Notizhefte in die Hände. Als sie sie las, verstand sie, dass sie schon lange kein Leben mehr hatte. Es war bloß eine sinnlose Existenz. Die Essstörung hatte neunzig Prozent ihrer Zeit und ihrer Gedanken in Anspruch genommen. Mit den restlichen zehn Prozent versuchte sie, ihre Krankheit zu verleugnen, zu verstecken und vor sich selbst kleinzureden und währenddessen das kleine bisschen Leben aufrechtzuerhalten, indem sie Jobs erledigte, Rechnungen bezahlte, aufräumte, duschte, Bekannte traf oder ihnen vielmehr absagte […].

S. 54

Ich würde das Buch all jenen ans Herz legen, die vor einer schweren Lektüre nicht zurückschrecken. Frauen, die mit der Beziehung zu ihrem Körper gelitten haben oder immer noch daran leiden, sich aber stark genug fühlen, eine Erzählung über das Thema zu lesen. Frauen, die mit einer ost-europäischen Erziehung groß geworden sind (in diesem Fall, eine Erziehung mit einem ukrainischen Einfluss). Sowohl Frauen als Männer, welche die oben genannten Frauen in ihrem Leben haben und sie gerne besser verstehen würden. Eltern, deren Kinder an Essstörungen leiden. All diese Menschen stelle ich mir als Leser vor, die das Buch bestimmt wahnsinnig spannend finden würden. Mich hat es teilweise sehr hart getroffen und übergangsweise emotional stark mitgenommen, weshalb ich froh war, das Buch nicht über eine allzu lange Zeitspanne gelesen zu haben. Ich würde es deshalb jenen zum Lesen empfehlen, die sich in einer halbwegs stabilen psychischen Lage befinden.

Wie konnte sie nur so geworden sein? Nichts an ihr war, wie es sein sollte, Dabei war sie doch eine so gelehrige Schülerin gewesen und hatte mit allen Mitteln versucht ein perfektes Mädchen und eine perfekte Frau zu werden. Die Gesellschaft, die Zeitschriften, das Fernsehen und später auch das Internet lehrten sie alles, was sie wissen musste. Ja, eigentlich begann es schon vorher mit den Märchen und Zeichentrickfilmen.

S. 120

Dieser Roman war ein Paradebeispiel dafür, wie viel einem eine “einfach imaginäre Geschichte” bieten kann. Durch die spannenden Perspektivenwechsel gewann man Einblicke sowohl in die Gefühlswelt der Tochter, als auch in jene der Mutter, während ihre problematische Beziehung zu einander im Mittelpunkt der Erzählung stand. Man bekam einen so intimen und nahen Einblick in das Leben und die Gedankenwelt von jemandem, der an einer Essstörung erkrankt ist, so dass es mich einige Konversationen mit Menschen in meinem Leben re-evaluieren ließ, die auch in der Vergangenheit davon betroffen waren. Man gewann ein Verständnis dafür, wie es für jemanden sein könnte, in ein neues Land auszuwandern und das Gefühl zu haben, sich nie wirklich richtig einfügen zu können. Man konnte auch in eine Welt eintauchen, wo man mitverfolgen konnte, wie das fehlende Gefühl von Erfüllung von einer Mutter auf ihr Kind übertragen werden kann.

Was hätte ich für ein Leben haben können, wenn ich einfach in einem Dorf in Süddeutschland geboren worden wäre? Oder wenn ich zumindest nicht schwanger geworden wäre oder abgetrieben hätte oder nicht in einem Familienleben gefangen gewesen wäre […]?

S. 275

Ich fragte mich, wie viele der Details aus dem Leben der Autorin in dem Buch verarbeitet wurden. Sie erzählte in einem Interview, dass sie selber in ihrer Jugend an einer Essstörung litt und dass auch ihre Eltern aus der Ukraine nach Deutschland umgezogen sind, genauso wie die Familie in “Jägerin und Sammlerin”. Es gibt auch eine Parallele im letzten Teil des Buches, wo ein Instagram-Account mit Illustrationen beschrieben wird, @eva_and_her_demons, welcher im echten Leben von der Autorin selber geführt wird. Auch sie, wie die Hauptperson in ihrem Buch, zeichnete gerne seit ihrer Kindheit.

Um nochmal allgemein auf das Buch zurückzukommen, fand ich es einfach genial geschrieben. Ich mochte sehr, wie der Erzählung ein Ende gesetzt wurde, da es sehr realitätsnah war. Das Buch hat zu 100% die höchste Bewertung verdient, es ist eine absolute Weiterempfehlung meinerseits und ich freue mich schon darauf, den ersten Roman der Autorin, “Kukolka“, bald lesen zu können!

Jägerin und Sammlerin – Lana Lux

★★★★★ (5/5)

Ausgabe: ISBN 978-3- 351-03798-7
Aufbau Verlag, 2020

Quellen

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