Nastjas Tränen – Natascha Wodin

Dieses Buch war ein absoluter Glücksfund. Auf die Autorin bin ich gestoßen, als ich jene gesucht habe, die entweder Ukrainer sind oder ukrainische Wurzeln haben. Letzteres hat mich auf Natascha Wodin gebracht. Ihr Roman ist stark mit ihren persönlichen Hintergründen verwoben, in dem sie über das Schicksal und das Leben einer ukrainischen Frau erzählt, die nach Deutschland auswandert.

Der Schreibstil der Autorin zog einen sofort in den Bann der Geschichte und sobald ich das Buch begonnen hatte, wollte ich es gar nicht mehr weglegen. Es las sich leicht und flüssig, man war gespannt zu erfahren, was als nächstes passieren würde und man war interessiert an dem Schicksal der Hauptperson. Das Besondere daran war, wie distanziert manche schockierende Vorfälle geschildert wurden. Ohne etwas von der Handlung zu verraten, es wurde ein Kind sowohl von seiner Mutter, als auch zweimal von seiner Großmutter zurückgelassen, jedoch wurden nicht die Gefühle zum Ausdruck gebracht, wie es den beiden Frauen dabei erging. Meiner Meinung nach war es auch passend, da es den Geisteszustand der damaligen Zeit gut beschrieb. Es ging um das Überleben und seine Familie auf jene Art und Weise zu unterstützen, die einem zur Verfügung stand. Über mentale Gesundheit oder welche Trauma ein derartiges Verhalten hinterlassen könnte, machte man sich keine Gedanken:

Wir in Deutschland waren es gewohnt, uns Fragen nach unserer Herkunft, unseren Eltern, unserer Kindheit, unserer Prägung zu stellen, wir gingen zu Psychotherapeuten, um uns selbst auf die Spur zu kommen, uns als Individuen zu finden, die Schatten, die uns bedrängen, aufzulösen. All das war Nastja fremd. In ihren Augen war der Mensch ein genetisch festgelegtes Wesen, das sich nicht verändern konnte. Sie hatte gelernt, dass die Psychologie eine bürgerliche Wissenschaft war, und sie glaubte nicht daran, dass sie den Menschen half.

S. 155

Dennoch wirkte die Erzählung so echt, dass sie genauso im wirklichen Leben hätte vorkommen können. Themen wie die Identität eines Menschen, das Leben in der Sowjetunion, der Umzug in ein neues Land, wo man nicht die Sprache beherrscht und das ewige kämpfen nach “Freiheit” wurden angesprochen. Mich hat es persönlich sehr berührt, da viele der Punkte darin sich mit Ereignissen in meiner Familie überschnitten haben. Ich würde das Buch zusätzlich als Paradebeispiel dafür verwenden, weshalb der Kommunismus einfach nicht als Gesellschaftsmodell funktionieren kann:

Täglich acht Stunden und länger Kampf mit Misswirtschaft und Desorganisation, mit den oft unüberwindbaren Schwierigkeiten der Materialbeschaffung. Nach der Arbeit bei jedem Wetter das Schlangestehen vor den Geschäften, in deren Schaufenstern meist nur große Pyramiden aus Mayonnaisegläsern zu bestaunen waren. Außer Brot waren Mayonnaise und Nudeln das Einzige, was es immer gab, nach allem, was man zusätzlich brauchte, musste man sich anstellen, manchmal stundenlang, man musste es “erstehen”, auch so einfache Dinge wie Kartoffeln und Mehl. An Obst, Gemüse, Zucker und vieles andere war meist nicht zu denken […].

S. 23

Solche Beschreibungen wurden mir bereits von meiner Großmutter, sowie meiner Mutter geschildert, dass es ihnen in der Ukraine genauso dabei ging. Dadurch, dass die Hauptperson Ukrainerin war, gab es immer wieder Einblicke, was Menschen nach der Zerfall der Sowjetunion in diesem Land charakterisiert hat.

So hatte sie das in ihrem Land erlebt, einem Land, in dem die Menschen den Staat verfluchten und zugleich von einer tiefen, irrationalen Machtgläubigkeit waren, von der sie aber nichts wussten.

S. 156

Die Neuauflage des Buches, die ich gelesen habe und die in 2023 veröffentlicht wurde, kam mit einem besonderen Extra. Es wurde nachträglich ein Nachwort hinzugefügt, worin einige Details zum Ende der Geschichte ergänzt wurden. Ich würde euch deshalb dazu raten, die neuere Ausgabe aufzusuchen, wenn ihr gerne das Buch lesen würdet. Wie nach dem Auslesen von jedem Buch auf deutsch, mache ich mich auf die Suche nach Lesungen mit dem Autor und wurde bei “Nastjas Tränen” im Literaturhaus Berlin fündig. Wenn euch das Buch berührt hat, würde ich euch die erste Hälfte der Lesung stark ans Herz legen (mit dem Disclaimer, dass die Aufnahme von vor Anfang des Krieges in der Ukraine stammt). Darin kann man mehr über kleine Details wie zum Beispiel die Widmung und welche Bedeutung sie hat erfahren, welchen Stand die Autorin zu den im Buch angesprochenen Punkten hat und vor allem welche autobiographischen Momente darin enthalten sind. Moderiert wird die Diskussion von Dmitrij Kapitelman, der selber auch Ukrainer ist und von dem ich das Buch “Eine Formalie in Kiew” gelesen und ebenfalls mit 5/5 ★ bewertet habe.

Dieser Roman ist eine absolute Weiterempfehlung meinerseits, wenn man sich emotional in der Verfassung fühlt, eine komplizierte Lebensgeschichte über sich ergehen zu lassen. Ich bin sehr froh darüber, die Autorin über “Nastjas Tränen” entdeckt zu haben und bin gespannt, ihre weiteren Bücher, “Sie kam aus Mariupol” und “Irgendwo in diesem Dunkel“, bald zu lesen.

Nastjas Tränen – Natascha Wodin

★★★★★ (5/5)

Ausgabe: ISBN 978-3-499-00699-9
Rowohlt Verlag, 2023 (zuerst veröffentlicht in 2021)

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