Sprache und Sein – Kübra Gümüşay

“Sprache und Sein” zählt zu einem der Bücher, bei dem es mir schwer fiel, es nach dem Lesen zu bewerten oder zusammenzufassen. Zwar habe ich mir viele Stellen markiert, wo mir interessante Ideen oder Gedankengänge aufgefallen sind, nichtsdestotrotz fehlte mir ein klarer roter Faden, der einen durch die einzelnen Geschichten führen würde. Es ging um Sprache, Gleichberechtigung, Feminismus, Sexismus, Rassismus, Hate-Speech im Internet, aber auch um so viele andere Themen. Im Endeffekt standen vor allem philosophische Überlegungen der Autorin im Mittelpunkt, so dass man als Leser nicht wirklich wusste, welche zentralen Reflexionen man mitnehmen sollte.

Ich kann mir vorstellen, dass dieses Buch für jene ansprechend wäre, die es bereits erlebt haben, wie es ist, zu einer Minderheit in der Gesellschaft zu gehören. Persönlich hat mir das Buch geholfen, gewisse Aspekte meines eigenen Verhaltens besser verstehen zu können. Es wurde ersichtlich gemacht, welche Eigenschaften Menschen entwickeln, wenn sie sich öfter an neue und fremde Umgebungen anpassen müssen, was ich bereits selber miterlebt habe. Was ich auch spannend fand, waren neben anderen kleinen Fun Facts, Details über Sprachen, die immer wieder auftauchten, über die ich zuvor noch nie etwas gehört habe. Sprachen, die keine genauen Farbbezeichnungen verwenden oder andere, die keine Vergangenheitsformen nutzen. Letzten Endes lief vieles darauf hinaus, was das Beherrschen von unterschiedlichen Sprachen für eine Auswirkung auf das eigene Leben hat.

Wenn eine weiße Freundin ein türkisches Familienfest in Deutschland besucht, eine nigerianische Hochzeit, einen afghanischen Henna-Abend oder eine andere Feier oder Veranstaltung, bei der eine weiße Person hervorsticht, dann bemühen sich die anderen Menschen um sie. Erklären ihr die ungeschriebenen Regeln, führen sie ein, stellen sicher, dass sie sich wohlfühlt und Fettnäpfchen ausweichen kann. Das ist nicht einfach nur Gastfreundlichkeit – dahinter steht auch ein Bewusstsein für Differenz und die Begrenztheit individueller Perspektiven, ein Wissen um unterschiedliche Lebenswelten.

S. 163

So leben manche Gefühle nur in bestimmten Sprachen. Sprache öffnet uns die Welt und grenzt sie ein – im gleichen Moment.

S. 13

Was mich davon abgehalten hat, das Buch mehr zu genießen, war die Tatsache, dass ich schon über viele der Themen einiges gelesen habe. “Sprache und Sein” scheint für mich ein gutes Buch zu sein, um einen Überblick über die Facetten der Einflüsse unserer Sprache auf die Realität zu untersuchen. Nachdem ich zuvor bereits einige Bücher über Rassismus und Caroline Criado Perez’ Buch “Invisible Women” gelesen habe, war vieles ein Auffrischen meines Wissens, anstatt neue Kenntnisse zu erwerben.

Ganz egal, was unsere eigentlichen Berufe sind, Feminist*innen, Umweltaktivist*innen, insbesondere Frauen of Color, die sich öffentlich positionieren, haben permanent bereitzustehen und alles andere – ihr Privatleben, ihre Arbeit – niederzulegen, um in die Bresche zu springen.

S. 99

Ich fand es bewundernswert, wie reflektiert die Autorin mit vielen Aussagen umging, so dass generische Theorien in Kontext gesetzt wurden. Hier ein Bespiel, um es anhand des Themas zu illustrieren, dass Gesellschaften, wo die Sprache nicht gegendert ist, als allgemein fairer eingestuft werden:

Gibt es weniger Sexismus und sexistische Gewalt in der Türkei, weil die Sprache zumindest grammatikalisch nicht diskriminiert? Nein – die Türkei ist eines der Länder mit den höchsten Femizid-Raten weltweit und mitnichten eine gendergerechte Gesellschaft. Denn Sprache ist nur ein Faktor. Andere sind mediale Bilder, Filme, Kunst, Kultur, Justiz, Exekutive [… ] etc.

S. 192-193

Auch wenn ich von der Vielfältigkeit der im Buch angesprochenen Themen fasziniert war, hat “Sprache und Sein” keinen bleibenden Eindruck auf mich hinterlassen. Meine Lesezeit hat sich über zwei Monate gestreckt und hat sich sogar von 2023 in 2024 hineingezogen, weil immer wieder andere Bücher, die ich angefangen habe, spannender waren und den Vortritt bekommen haben. Zwar würde ich nicht sagen, dass es ein schlechtes Buch war, jedoch würde ich auch keine Weiterempfehlung dafür aussprechen.

Sprache und Sein – Kübra Gümüşay

★★★☆☆ (3/5)

Edition: ISBN 978-3-446-26595-0
Hanser Berlin, 2020

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